Thi My Lien Nguyen

Thi My Lien Nguyen: «Layers of Spinach»


Am Anfang stand ihr Interesse für den Journalismus. Bereits als Teenager war Thi My Lien Nguyen für Jugendmedien aktiv. Während des Kunst- und Design-Studiums in Luzern fotografierte sie für verschiedene Medien und war später als Foto- und Videografin für die Thurgauer Zeitung und die NZZ tätig. Eine prägende Zeit. Thi My Lien Nguyen hat gelernt, journalistisch zu denken, die vielfältigen Haltungen und Sichtweisen der Menschen zu respektieren und zur Darstellung zu bringen, den gesellschaftlichen Dialog über alle Unterschiede hinweg zu ermöglichen. Auch als Künstlerin verfolgt sie einen ähnlichen Ansatz. Aber sie will tiefer schürfen, herausfinden, wie divergierende Weltsichten zustande kommen und wie über alle Gegensätze hinweg der gesellschaftliche Dialog in Gang gebracht werden kann. Als Künstlerin setzt sie verschiedenste gestalterische Mittel und Medien ein – auch das gemeinschaftliche Kochen und das gemeinsame Mahl gehören dazu. Wohl fühlt sie sich in der Rolle als aufmerksame und teilnehmende Beobachterin und Zuhörerin, die weiss, dass jeder Mensch das grosse Ganze von seiner eigenen Position aus wahrnimmt.
Zurzeit beschäftigt sich Thi My Lien Nguyen mit verschiedenen Drucktechniken, unter anderem der Risographie, einem in Japan entwickelten Druckverfahren nach Art des Siebdrucks. Sie experimentiert mit Pflanzenextrakten als Druckfarben, die sich im Laufe der Zeit unter dem Einfluss von UV-Licht verändern. Auch ihre Arbeit für das Kunstblatt ist so entstanden – eine Anthotypie, über Wochen und Monate hinweg belichtet. Dieser zeitintensive Prozess schafft für Thi My Lien Nguyen eine neue, nicht statische Materialität. Er macht sichtbar, was wir meistens nicht sehen oder nicht sehen wollen: dass nichts bleibt, wie es ist. Für Thi My Lien Nguyen ist das eine zentrale Erfahrung – und ein zentrales Thema in ihrem Denken und Gestalten.
Die 1995 in St.Gallen geborene Künstlerin, die in Amriswil aufgewachsen ist und heute in Winterthur lebt, verbrachte soeben drei Monate als Artist in Residence in London, wo auch die vorliegende Arbeit entstanden ist. Wer sie länger betrachtet, wird in einen Wald oder Dschungel gezogen, sieht einen Weg vor sich, der ins Undeutliche und Ungewisse führt. Eine Metapher für das Leben? Eine Reminiszenz an Vietnam, an das Land, aus dem Thi My Lien Nguyens Grosseltern einst geflohen sind?
Mehrere Druckschichten («Layers») überlagern sich – fast wie Bewusstseinsebenen. Das Bild wird von rechts nach links immer dichter, die Erinnerung deutlicher, sie entwickelt und verändert sich – so, wie auch das Bewusstsein und seine Inhalte sich wandeln und verdichten.
Das zarte Grün übrigens stammt vom Spinat («Spinach»). Wie wird es sich in Zukunft verändern? Das vorliegende Kunstblatt allerdings ist mit den üblichen Druckfarben hergestellt. Exemplare, die überdauern, werden in 100 oder 1000 Jahren vergilbt und verblasst sein. Das Original dieses Originals wird seine ungewissen Wandlungen viel schneller durchmachen und sich von der Kopie entfernen. Hanspeter Spörri