Regula Engeler – C97-25A, 2024 aus der Serie [Flâneuse] // only halfway to paradise – on perception and/or deception (studies)
Der Blick fällt auf ein undurchdringliches Dickicht. Wie ein Lichtstrahl halbiert ein grell aufleuchtender Baumstamm die leicht entfernt stehende Wand aus Pflanzen. Beim Verweilen erkennt das Auge unterschiedliche Grüntöne, Wuchsformen, Blattarten, und einzelne Pflanzen beginnen hervorzutreten. Man glaubt, in der unstrukturierten Wildnis eine Ordnung zu entdecken, eine Schichtung verschiedener Gattungen: niedere Stauden zuunterst, dann Gebüsch und höhere Sträucher und schliesslich oben die Baumkronen. Parallel dazu wandeln sich das Licht und die Farbigkeit ins Unnatürliche. Etwas Unwirkliches bemächtigt sich der Szenerie und führt vom Naturanblick ins Traumhafte. Äussere und innere Welten scheinen zu verschmelzen. Zugleich haftet dem Bild etwas Kulissenhaftes an, wie für einen Film. Eine Spannung baut sich auf. Man wartet darauf, dass etwas geschieht, sich etwas bewegt, vielleicht ein Tier vorüberspringt. Dieser filmische Suspense und die Ambivalenz der Stimmung sind charakteristisch für die Fotografien von Regula Engeler.
Als Flâneuse sammelt sie auf ihren Streifzügen durch Stadt und Land die Bilder, aus denen sie ihre imaginäre Landschaft entwickelt. Jedes Bild ist zugleich Abbild und Projektion, gibt das Gesehene wieder und wird beeinflusst vom Blick der Künstlerin. Vielleicht könnte man es als eine Art Osmose verstehen, bei der Inneres und Äusseres durch die Membran des Auges (und der Kamera) in fliessendem Austausch stehen. So erscheinen die Wahrnehmung («perception») und die Täuschung («deception») im «Und/Oder» des Titels als gleichwertig und austauschbar. Doch auf dem Weg zu welchem Paradies wandelt die Flâneuse und wir mit ihr? Was geschähe, wenn wir den Weg zu Ende gingen? Wäre das Paradies überhaupt als solches erkennbar, wenn wir es erreichten, oder braucht es die Distanz, die Unerreichbarkeit, die Vertreibung, damit es als Paradies erdacht werden kann?
Regula Engelers umfangreiche Werkzyklen öffnen Fragenhorizonte mit philosophischer Dimension und poetischer Leichtigkeit. Die 1973 geborene St. Galler Künstlerin hat in Berlin Freie Kunst studiert und lebt heute in Bühler. Ihre Medien sind Film und Zeichnung und seit 2012 vorwiegend experimentelle, analoge Fotografie. Dabei setzt sie bewusst Fehler und Störungen wie Verfärbungen oder Kratzer als gestalterische Mittel ein. Die Figur der Flâneuse als beobachtende und träumerische Spaziergängerin ist zurzeit ein Leitmotiv in ihrem Schaffen.
«Geheimnisvoll schleichen dem Spaziergänger allerlei Einfälle und Ideen nach, derart, dass er mitten im fleissigen, achtsamen Gehen stillstehen und horchen muss, weil er, über und über von seltsamen Eindrücken, Geister-Gewalt benommen, plötzlich das bezaubernde Gefühl hat, als sinke er in die Erde hinab, […] Erde und Himmel fliessen und stürzen in ein blitzend übereinanderwogendes, undeutlich schimmerndes Nebelbild zusammen. Das Chaos beginnt und die Ordnungen verschwinden.» Robert Walser, Der Spaziergang
Corinne Schatz