Nicolaj Ésteban, «Sorry Brudi», 2025, Virtuelle Fotografie
An der Adresse gibt es nichts zu rütteln, doch den Namen suche ich vergeblich auf der Sonnerie. Zum Glück tritt eine junge Frau durch die Tür, als ich nach einem Kellereingang Ausschau halten will. Nicolaj Ésteban? Sie lacht: Das ist sein Künstlername, klingeln Sie mal bei Schmid! Aha. Es klappt. Hat mich da gerade die Vermengung von Fiktion und Realität liebevoll auf den Arm genommen? Die physische Begegnung ist rundum herzlich. Der Raum, den Nicolaj
Ésteban (*1992) zum Arbeiten nutzt, erinnert an ein wiederbelebtes Teenagerzimmer, in dem Heldinnen und Trostspender aus Kindheit und Jugend Stimmung machen. Hier sind es allerdings die Mitglieder seiner eigenen Band «Loveboy And His Imaginary Friends», allen voran ein rosa Delfin mit spitzen Zähnen und Heiligenschein, der fliegen kann. Als Kuschelwesen säumen sie ganz real den Fenstersims: Hugtus Roch Hard, der Kaktus, der wie kein anderer die Hüfte schwingen kann und Bass spielt, der Drummer Lampard und eben Keyboarder Beefynn McDoll. Gefunden hat Nicolaj Ésteban die Charaktere in seinen Kinderzeichnungen. Er sei Anfang zwanzig gewesen und in der Ausbildung zum Grafiker, als tiefe Depressionen seinen Alltag zum Erliegen brachten und er sich entscheiden musste zwischen Lehrabbruch oder Psychotherapie. Das war der Anfang, sich intensiv mit sich selbst auseinanderzusetzen. Auch seinen Hang zu wilden Geschichten musste er erst wieder schätzen lernen und Wege finden, wie er seiner Fantasie und vielen weiteren Interessen und Begabungen Platz in der Realität und im Lebensalltag einräumen konnte. Die Bedeutung von Musik war ihm, Sohn eines Musikers, seit Kind selbstverständlich. Wo aber ist sein Platz?
Aufgewachsen in Arbon, schloss Nicolaj die Gestaltungslehre in St. Gallen ab. Als Multimediaproduzent im Modehaus Akris konnte er sich zwischen 2014 bis 2018 unter anderem für Animationen zu den Fashion Shows verausgaben. Dann aber entschied er sich für das Abenteuer Selbständigkeit sowie eine Filmausbildung in Sydney. Bevor er ins Raumschiff stieg, durchs All flog und in Australien landete, wollte er die Idee einer multidisziplinären Mixed-Reality-Band mit den erfundenen Freunden aus der Kinderzeit Realität werden lassen. Er produzierte ein paar kurze Animationsfilme und baute kopfunter dreidimensional an den Loveboy-Welten weiter. Es kam zu ersten Live-Auftritten in Sydney.
Zurück in der Ostschweiz sind «Loveboy And His Imaginary Friends» ausser auf Konzertbühnen 2024/25 auch in der regionalen Kunstausstellung «Heimspiel» in der Kunst Halle Sankt Gallen anzutreffen, wo sie erste Einblicke ins zweite Album, «Smile Baby», geben. Dessen Fertigstellung beschäftigt Nicolaj Ésteban intensiv. Er will mit dem Projekt, zu dem auch ein Film und eine interaktive Bühnenshow hinzukommen werden, Mut machen, sich den inneren Dämonen zu stellen. Zudem sollen die Disziplinen verschmelzen, Grenzen verschwinden, der Graben zwischen Wunsch und Wirklichkeit sich auflösen.
Wenn sich die zwei Delfine auf dem Kunstblatt innig mit den Flügelflossen umarmen, werden sie zu realen Wesen, die dem «Smile Baby»-Projekt entsteigen. Dazu trägt der Druckraster in Schwarz-Weiss und der damit erzielte Eindruck von Fotografie bei. Aber auch die Übersetzung des Bilds als Aufforderung, mehr Nähe zwischen den Menschen zuzulassen. Für ihn gehe es auch um die Suche nach Rollen von Männlichkeit, wo Fehler eingestanden, Entschuldigungen ausgesprochen, Gefühle wahrgenommen und mitgeteilt werden, so Nicolaj Ésteban.
Es waren bestimmt diese weit offenen Flossen des Delfins, die mich gleich zu Beginn nicht nur umarmt haben, sondern mitfliegen liessen. Ursula Badrutt

