Ilona Ruegg: «90° vertikal», 2025, Fotografie
Schon im ersten Gespräch mit Ilona Ruegg merke ich: Es ist verlockend, mit ihr über Wissenschaft, über Physik und Science-Fiction zu reden. Von sich selbst sagt sie, nicht das Unsichtbare fasziniere sie – sie ist keine Romantikerin –, sondern das Ungesehene. Ein entscheidender Unterschied. Das Ungesehene ist das, was wir sehen könnten, aber nicht sehen, weil unsere Konditionierung, unsere erlernte Art des Wahrnehmens, dies nicht zulässt.
Sie, die einst gerne Mathematik und Physik studiert hätte, das aber nicht durfte, lässt sich als Künstlerin von physikalischen Gegebenheiten, von Raum und Zeit, inspirieren. Dies war auch so, als sie eines Abends auf ihrem Balkon in Zürich sass und aus der Nachbarschaft starke, schneidende Geräusche vernahm, die sich rhythmisch wiederholten.
Durch eine hell erleuchtete Türöffnung sah sie Körper in alle Richtungen fliegen. «Es war ein Blick in eine andere Welt», sagt sie: «Ich war fasziniert, weil die Fremdheit blieb, auch als ich mir langsam einen Reim darauf machen konnte, dass es sich um Skater handeln musste.»
An vielen weiteren Abenden lauschte sie von ihrem Balkon aus dem Tun und schaute durch die Türöffnung. Eines Tages entschloss sie sich, die Sache aus der Nähe zu untersuchen. Sie ging hin und unterhielt sich mit den jungen Leuten. Dabei erfuhr sie, dass eine Gruppe selbst die Initiative ergriffen und in Eigenregie eine Skating-Architektur geplant und erbaut hatte. Ilona Ruegg geriet bei ihrem Besuch bei den Skater:innen in den Sog von Fremdheit einer bodenlosen Landschaft, die sie als eine Art Hyperraum mit Anklängen an den Weltenraum erlebte – «und das mitten in Zürich! Koordinaten können sich entfesseln», sagt sie: «Das erleben wir heute mehr denn je.»
Die Fotografie mit dem Titel 90° vertikal gibt den Blick frei in die Skaterlandschaft, die jedoch auf den ersten und auch auf den zweiten Blick nicht als solche erkennbar ist, weil wir darauf trainiert sind, einen festen Boden unter unseren Füssen zu wissen, Oben und Unten als fixe Grössen wahrzunehmen. Die um 90 Grad gedrehte Ansicht ist eine Anomalie, verwirrt unser inneres Lot, das uns hilft, uns im Raum zu orientieren.
Ilona Ruegg mag Anomalien. Gerne zeigt sie im Bekannten das fremd Wirkende. Denn das Gewohnte und Bekannte ist eine Sinnestäuschung, eine Einschränkung der Wahrnehmung, die vielleicht nötig ist, um uns in der verwirrenden Vielfalt der Welt zurechtzufinden, die es uns aber auch erschwert, die wahre Natur der Dinge und die Lage der Welt zu erkennen.
Ilona Rueggs Arbeit ist auch eine Hommage an die Skaterinnen und Skater. Sie, die oft nur geduldet sind im städtischen Raum, bilden schon an sich eine Anomalie im Alltag. Aber sie sind auch sportliche Pioniere, die mit ihrem zweckfreien Tun, ihrem virtuosen Wirbeln durch Zeit und Raum, die gewohnte Umgebung als Teil des Kosmos erkennen lassen. Hanspeter Spörri

