Flavio Hodel

Flavio Hodel: «Okulare», Gipsgüsse mit schwarzer Gouache

Am Ende unseres Gesprächs gibt mir Flavio Hodel ein zerlesenes schmales Reclam-Bändchen mit nachhause: Thomas Bauer: Die Vereindeutigung der Welt. Zu diesem Zeitpunkt weiss ich bereits: Den jungen Künstler treiben die gleichen Themen um wie mich, den Journalisten im Pensionsalter. Ihn fasziniert das, was sich nicht begrifflich fassen lässt. Er hält es für wichtig, dass wir lernen, mit Ambivalenz, mit Vieldeutigkeit und Widersprüchen umzugehen. Er findet, es sollte eine Vielfalt an Welten möglich sein. Mit seiner Kunst feiert er das Nichteindeutige; seine Arbeiten sind Gegenentwürfe zum Populismus der harten Eindeutigkeit, die – nebenbei bemerkt – oft nur eine Schein-Eindeutigkeit ist und propagandistischen Zwecken dient.
Über seine künstlerische Praxis schreibt Flavio Hodel, deren Schwerpunkt liege im Fragmentieren und Verfremden. Durch die bruchstückhaften Installationen würden neue Betrachtungsräume geöffnet. Man werde aufgefordert, Risse und Begrenzungen der eigenen Wahrnehmung zu erahnen und Vervollständigungen zu hinterfragen.
Auch da fällt mir eine Parallele zu meiner journalistischen Praxis auf, bei der ich versuche, ein Gegengewicht zur Illusion der Vollständigkeit und vollständigen Informiertheit zu schaffen. Wie der Künstler fühle ich mich in «eher vagen und ambivalenten Gefilden» wohl, weil man aus meiner Sicht mit dem Zulassen und Darstellen von Widersprüchlichem der Wirklichkeit näherkommt als mit der in Medien oft praktizierten Komplexitätsreduktion.
Die vorliegende Arbeit ist eine Zusammenstellung von Gipsgüssen, die auf einem mit schwarzer Gouache unregelmässig bemalten Spiegel entstanden sind. Im Zentrum der Unterseite wurde die Farbe durch den flüssigen, aber schnell erhärtenden Gips verdrängt. In der Mitte der kleinen Objekte sind deshalb oft Leerstellen zu finden, eine Art blinder Flecke.
Die Fotografie stellt eine Momentaufnahme der skulpturalen Arbeit dar. Die kleinen Gipsobjekte, deren Unterseite nun nach oben gekehrt ist, lassen sich in unterschiedlicher Zahl verschieden anordnen. Je nach Sichtweise erinnern sie an Augen, Fotogramme, aufgeschnittene Früchte. Sie könnten selbst fotografischen Ursprungs sein, Geisterflecke, Blendungen.
Flavio Hodel bietet keine Interpretation an. Ihm reicht es, dass seine Gipsobjekte und deren Anordnung Fragen aufwerfen: Natur oder Kunst? Fragmente oder ein Ganzes? Und dass sie eine spielerische Betrachtung ermöglichen.
Wir müssten noch einen Titel haben, schreibe ich ihm, als der Text fast fertig ist. «‘Okulare’ fände ich noch einen einigermassen passenden Titel», schreibt er zurück. Hanspeter Spörri